Grenzgänger

Grenzgänger

Der ältere Herr mit dem kurzen grauen Haar wäre unauffällig, würde er nicht seinen Dackel Rudi an der Leine durch die ABT Hallen in Kempten führen. Erst beim zweiten hinschauen erkennt man in ihm den Mann mit der abenteuerlichsten Karriere im deutschen Profifussball: Von DDR-Flüchtling zum Top-Star der Bundesliga. Zwischen zwei Welten heisst das Buch, das Norbert Nachtweih geschrieben hat. Über sein bewegtes und schillerndes Leben.

 

Drahtig wirkt der 67-Jährige, noch immer gut in Form. Interessierter Blick, Lachfältchen um die Augen. Immer mal wieder ein schelmisch wirkendes Schmunzeln. Seit 20 Jahren ist er bei Eintracht Frankfurt angestellt, als Nachwuchstrainer. „Und ich kümmere mich um Walking Football“, erzählt er. Fußball im Gehen also, für über 55-Jährige, die lieber den Ball als sich laufen lassen. Nachtweih beherrschte das früher im höchsten Tempo. Sportmarketingchef Harry Unflath hat den stillen Star, der ungern im Rampenlicht steht („Ich brauche das nicht“), eingeladen für den Abend vorm Tag der Deutschen Einheit. Bayern spielt in der Champions League bei Aston Villa, Frankfurt in der Europa League erst in Istanbul und am folgenden Sonntag dann in der heimischen Liga gegen Bayern.

VON DER DDR ÜBER ISTANBUL NACH FRANKFURT, ZU BAYERN – UND ABT

Es könnte keinen besseren Termin als Anfang Oktober geben, um mit Nachtweih zu sprechen. 

Über Istanbul ist er 1976 aus der DDR geflüchtet, mit erst 19 Jahren, 13 Jahre vor dem Mauerfall. Bei Eintracht startete der exzellent ausgebildete, beidfüßige Allrounder seine Bundesliga-Karriere, gewann UEFA-Cup und DFB-Pokal, ehe er 1982 beim FC Bayern begann, eine Erfolgs-Ära mitzuprägen - direkt nach jener Saison, die die Münchner mit der Europapokal-Finalniederlage gegen Aston Villa beendet hatten. Nachtweihs Markenzeichen: Hellblondes, wallendes Haar. Und wuchtige Torschüsse. Sieben Jahre waren das in München mit vier deutschen Meisterschaften und zwei Triumphen im DFB-Pokal – sowie dem legendär verlorenen Europapokalfinale der Landesmeister 1987 in Wien gegen den FC Porto. Sieben Jahre auch in einem Zimmer (oder sogar im Doppelbett, was damals durchaus üblich war) bei Auswärtsreisen und Trainingslagern mit Klaus Augenthaler (67). „Auge“stellte jetzt den Kontakt zu ABT her. Der Weltmeister-Libero von 1990 war selbst schon Gast bei „den Äbten“, in Kempten und bei DTM-Rennen, er fuhr im Renntaxi mit. So begeistert war er davon, dass er Nachtweih vorschwärmte und Harry Unflath vorschlug, auch ihn einzuladen. „Wir haben uns am Nürburgring kennengelernt. Auch Norbert hat ein paar Runden mit Markus Winkelhock im Innovations-Taxi unseres Partners Schaeffler gedreht“, erzählt Unflath an diesem zweiten Oktober-Abend bei Kemptens Edelgastronom Claudio Parinello.

KETTENRAUCHER „AUGE“ BRINGT IHN ZUM LESEN

Norbert Nachtweih macht mit seiner Frau Ilka – und Dackel Rudi – einen Abstecher aus dem Allgäu-Urlaub, um in Tuning-Schmiede und Motorsportabteilung hinter die Kulissen zu schauen.

Beim Afterwork-Abend des von ABT gesponserten Bayern-Ligisten TSV Kottern erzählt er dann Episoden und Anekdoten aus seinem Leben, das er jetzt mit dem Journalisten Matthias Liebing in einer lesenswerten Biografie aufgearbeitet hat. Liebing ist zudem Autor einer NDR-Dokumentation über Nachtweih. Nachtweih hat auf einem Barhocker in Parinellos La Strada Platz genommen zum spontanen Bühnen-Interview mit BILD-Journalist Jörg Althoff. Die Augen des vierfachen Großvaters funkeln spitzbübisch vergnügt hinter dem Mikro, er schmunzelt wieder: „Ja, der Klaus. Wenn um 22 Uhr Bettruhe war, lag ‚Auge‘ längst auf dem Bett und las. Auf dem Bauch eine Schachtel Zigaretten. Er las, rauchte und sagte fast keinen Ton. Nur seine tiefen Züge und das Auspusten des Qualms waren zu hören. Jede Nacht ging das so, bis er die ganze Schachtel weggequarzt hatte.“ In seinem Buch schreibt er: „Mir blieb nichts anderes übrig, als selbst mit dem Lesen anzufangen. Meistens Spionage-Romane, die in Russland, der DDR, den USA oder der BRD spielten. Wobei ich die Inhalte (…) kein bisschen auf meine persönliche Situation als DDR-Flüchtling bezogen habe. Keine Spur.“

FLUCHTZIEL BUNDESLIGA

Jetzt ist Nachtweih selbst Autor.

Sein starkes Werk ist ein außergewöhnlich detaillierter Insider-Blick hinter die Kulissen der Bundesliga der Siebziger-, Achtziger- und frühen Neunziger-Jahre. Vielmehr noch: „Zwischen zwei Welten“ ist ein authentisches Dokument deutsch-deutscher Zeitgeschichte. Pointiert und mit feiner Selbstironie erzählt von einem, der als Fußball-Star mittendrin war. Spannend wie ein Roman, 284 Seiten faszinierende Realität. Es waren wilde Zeiten damals, die Nachtweih erlebt hat. Die Triebfeder für seine Flucht war tatsächlich, so schildert er es, die Sehnsucht nach der Bundesliga. Die Frage, die sein bester Freund Burkhard Pingel, Torwart Jürgen Pahl und er sich immer und immer wieder im Casino ihres DDR-Oberliga-Vereins Hallescher FC Chemie stellten: Wären wir gut genug, dort zu spielen? Es war in der DDR zwar verboten, Westfernsehen zu schauen; gleichwohl war es in manchen Regionen hinter dem „Eisernen Vorhang“ möglich. Das schürte bei den jungen Männern große Träume von vermeintlich unerreichbaren (aber definitiv verbotenen) Zielen. Dann half im November 1976 der Zufall. Nach einem Spiel mit der U21-Nationalelf der DDR in der Türkei lernten Nachtweih und Pahl in einer Hotelbar in Bursa einen Amerikaner kennen, der ihnen plötzlich die Gelegenheit eröffnete, „rüberzumachen“, wie das früher in der DDR hieß. Bei Whiskey und anderen alkoholischen Getränken wurde auf dessen Zimmer der erstaunlich simple Fluchtplan geschmiedet.

DRAMATISCHE ENTSCHEIDUNGEN

Nachtweih schildert eindrücklich seine Gefühle und Ängste während der für ihn unendlichen zwei Stunden im Bus von Bursa zum Flughafen nach Istanbul.

Dort sollten sie während einer Pause auf dem Basar in ein Taxi steigen und zu dem Amerikaner in dessen Istanbuler Hotel fahren. „Ich hatte ein Gewitter von Gedanken im Kopf. Machen oder nicht machen? Was, wenn irgendetwas schiefgeht? Was passiert mit meinen Eltern, meinen Geschwistern? Mit mir? Will ich alles auf eine Karte setzen? Ich hatte doch ein gutes Leben, warum alles riskieren?“ Den dramatischen Moment der Entscheidung auf dem Basar schildert Nachtweih fesselnd: „Langsam kam der Zeitpunkt der Abfahrt des Busses (zum Flughafen) näher. Hätte Jürgen jetzt einen Rückzieher gemacht, wäre ich sofort dabei gewesen. Da unser verrückter Torwart aber fest entschlossen war, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, ließ ich mich mitreißen. Ohne Jürgen hätte ich das nicht gemacht, wofür ich ihm bis heute sehr, sehr dankbar bin. Die Entscheidung fiel in letzter Sekunde, länger hätten wir nicht warten können. Burkhard (Pingel, sein engster Freund, der ursprünglich mitkommen sollte, d. Red.) blieb auf dem Basar, Jürgen und ich stiegen ins nächste Taxi. Tür zu – und los! Das Herz schlug mir bis zum Hals.“ Es war der Moment, der Nachtweihs Leben die Wende gab. Aber auch dem Leben seines hochtalentierten Mannschaftskameraden Pingel, der sich für das Bleiben in der DDR entschied. Nachtweih schreibt: „Was mit Burkhard passierte, ist die Schattenseite meiner Flucht. Während Jürgen und ich den entscheidenden Schritt zur Erfüllung unseres Lebenstraums machten, begann für Burkhard ein Alptraum.“ Und weiter: „Die Linien-Maschine mit den übrigen Nationalspielern stand stundenlang auf dem Rollfeld. Längst war Ost-Berlin informiert, was dazu führte, dass nicht nur die türkische Polizei nach uns suchte, sondern auch der KGB, der russische Geheimdienst. Den Delegationsmitgliedern wird klar gewesen sein, dass ihre Vereins- und Parteikarrieren genau jetzt und hier endeten. Immer mehr konzentrierte sich das Interesse nun auf Burkhard Pingel. Unser Mitspieler beim HFC. Mein bester Kumpel. Mein Zwillingsbruder. Die ärmste Sau.“ Kurzum: Pingels vielversprechende Fußballer-Karriere in der DDR war vorbei, weil man ihm Mitwisserschaft vorwarf und den Fluchtplan nicht verraten zu haben. Nachtweih hingegen war mit Pahl (später Torwart bei Eintracht Frankfurt) der erste Top-Fußballer, der aus der DDR flüchtete. Er wurde zum erfolgreichsten Ex-DDR-Spieler im Westen. Keiner gewann mehr Titel – auch keiner nach der Wende.

Norbert Nachtweih

Geburtstag: 4. Juni 1957
Geburtsort: Sangerhausen (DDR)
Wohnort: Liederbach am Taunus
Größe: 1,74 Meter
Position: Abwehr und Mittelfeld
Privat: In zweiter Ehe verheiratet, zwei
Töchter aus erster Ehe, vier Enkel
Berufe: Fußballprofi, seit 2005 Trainer
der Fußballschule bei Eintracht
Frankfurt, seit 2021 Trainer Walking
Football

Stationen als Profi
1974–1976: HFC Chemie
(35 Spiele/2 Tore)
1978–1982: Eintracht Frankfurt
(120/26)
1982–1989: Bayern München (202/20)
1989–1991: AS Cannes (43/2)
1991: Eintracht Frankfurt (3/0)
1991–1996: Waldhof Mannheim
(127/10)

Größte Erfolge
4 x Deutscher Meister (1985-1987,
1989), 1 x UEFA-Cup Sieger (1980),
3 x DFB-Pokalsieger (1981, 1984,
1986), 1 x DFB-Supercupsieger (1987)

EINE BIOGRAFIE WIE EIN SPIONAGE-THRILLER

Immer wieder arbeitet Nachtweih in seinem Buch den Kontrast heraus zwischen seinem Werdegang inklusive Luxus-Leben in der Bundesrepublik und dem Leben seiner Familie und Freunde in der DDR. Von Stasi-Verhören seiner Eltern und Geschwister („Sie mussten ihre Zahnbürsten mitbringen“) schreibt er, von verwanzten Wohnungen und zahlreichen Repressalien. Er skizziert das emotionale Wiedersehen mit seinen Eltern, einer Schwester, einem Bruder und einer Schwägerin nach vier Jahren, bei einem Europacup-Auswärtsspiel mit Eintracht im damals tschechoslowakischen Brünn. DDR-Bürger duften in den Ostblock-Staat ohne Visum reisen. Die westdeutschen FDP-Politiker Wolfgang Mischnick (Verwaltungsrat bei Eintracht) und sogar Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hatten zudem diplomatische Kontakte spielen lassen. Beim erstmaligen Blick in seine Stasi-Akte für die Recherchen zu seinem Buch fand Nachtweih darüber Verhörprotokolle der Stasi mit seinen Angehörigen. Wie sehr die Stasi ihn im Visier hatte, erfuhr Nachtweih schon, als der westdeutsche Bundesnachrichtendienst ihm in den Achtzigern im Büro von Bayern-Manager Uli Hoeneß eröffnete, dass ein Opel-Mitarbeiter als Stasi-Spitzel enttarnt worden war. Nicht nur Fotos von Nachtweihs Frankfurter Wohnung wurden bei dem gefunden, sondern auch ein genaues Bewegungsprofil. Wollte die Stasi ihn zurück in die DDR entführen? Über den vermeintlichen Unfalltod des Jahre später aus der DDR geflüchteten Lutz Eigendorf (er war Nachtweihs Zimmerkollege bei der U21), schreibt Nachtweih heute: „Ich glaube nicht an einen Unfall. Sollte ich besser sagen: Stasi-Mord?“ Eigendorf hatte sich oft öffentlich provozierend und negativ über die DDR geäußert. Nachtwei hingegen vermied konsequent politische Äußerungen. Ob ihn das schützte, oder ob er einfach nur Glück hatte? Einmal, zu Frankfurter Zeiten, konnte er plötzlich seinen Ford Capri nicht mehr bremsen; nur mit viel Geschick vermied er einen Unfall. Später in der Werkstatt stellte sich heraus, dass der Behälter für die Bremsflüssigkeit leer war – ohne, dass es ein Leck gab …

„Den Bayern musste ich das Feiern erst beibringen.“

Norbert Nachtweih 

DER NACHTFALTER DES FRANKFURTER NACHTLEBENS

Dennoch hegt Nachtweih keinen Groll gegen die DDR, nicht gegen das Land und die meisten Menschen

 An diesem Abend in Kempten erzählt er: „Die Stasi war schlimm, ein Wahnsinn, was die alles angestellt haben. Aber ich habe meine Heimat geliebt. Noch heute sage ich: Ich bin Ossi. Ohne meine Ausbildung in der DDR wäre meine Karriere in der Bundesliga wohl auch gar nicht möglich gewesen.“ So manches unterhaltsame Kapitel in seinem Buch würde es dann nicht geben. Nachtweih erzählt durchaus selbstkritisch, wie er zum Spitznamen „Nachtfalter“ kam „Das Frankfurter Nachleben übte seit meiner Ankunft eine unglaubliche Faszination auf mich aus.“ Ein Le- benswandel, den Nachtweih über viele Jahre kultivierte, auch, als er längst mit seiner ersten Frau Patricia verheiratet war und Kinder hatte. In München blieb das so. „Ich hatte einen unbändigen Freiheitsdrang“, schreibt er. Und: „Den Bayern musste ich das Feiern erst beibringen.“ Er schildert freimütig, wie das damals so war, etwa bei der allseits berühmten Biggi in deren legendärer Frankfurter BB-Bar, die erst gegen 24 Uhr öffnete. Welche Stars dort „die Sau rausließen“ – um in der Nacht nicht selten weiterzuziehen in Biggis Etablissement am Hühnerweg 1. Eine in mindestens der halben Bundesliga beliebte Adresse, um die sich unzählige Erzählungen ranken. Nachtweih war 1982 bei seinem Wechsel von Frankfurt nach München mit 1,7 Millionen D-Mark der Rekord- und Risikotransfer der Bundesliga. Eingefädelt natürlich von Uli Hoeneß – mit Geld, das Bayern damals erst noch erwirtschaften musste. Er enthüllt auch, was er verdiente. Von 100.000 Mark in Frankfurt bis zu 370 000 Mark plus Prämien bei Bayern. Pro Jahr. Und er lässt nicht aus, wie er und zahlreiche Eintracht-Spieler im sogenannten Bauherren-Skandal Geld verloren mit überteuerten, maroden Immobilen – und wie Hoeneß ihm später in München aus der Not und Schuldenfalle half.

„WÜRDE ALLES WIEDER GENAUSO MACHEN“

Natürlich rollt in „Zwischen zwei Welten“ auch der Fußball.

Nachtweih liefert detaillierte Hintergründe zu vielen gewonnen wie verlorenen Spielen. Beckenbauer, Breitner, Grabowski, Bum-kun Cha, Matthäus, Brehme, Pezzey, Borchers, Czernai, Heynckes, Lattek – kaum ein großer Spieler- oder Trainer-Name der Bundesliga, der nicht vorkommt mit kleinen oder größeren Geschichten. Wie jene vom lesenden und qualmenden Augenthaler. Zum Schmunzeln, zum Lachen, zum Staunen. Den 9. November 1989 erlebte Norbert Nachtweih schon in Südfrankreich als Spieler von AS Cannes. Am Tag, als die Mauer fiel und DDR-Bürger erstmals frei und ungehindert in den Westen reisen konnten, rief er seinen Freund und Fluchtgefährten Jürgen Pahl an. „Wir konnten es beide nicht fassen.“ Wenig später feierte die inzwischen große Familie Nachtweih ihre ganz private Wiedervereinigung mit Blick aufs azurblaue Mittelmeer. Der letzte Absatz in Norbert Nachtweihs bemerkenswertem Buch lautet: „Am 16. November 1976 musste ich mich entscheiden. Entweder für das eine Leben – oder das andere. Für eine von zwei Welten. Ich würde alles wieder genauso machen.“