Extrem wird es gleich nach dem allerersten Start der 24 Stunden von Le Mans am Samstag, dem 26. Mai 1923: Die Startflagge ist um 16 Uhr gefallen. Die 33 in vier Klassen aufgeteilten handelsüblichen Tourenwagen sind alle in die Gänge gekommen. Nun stecken ihre Fahrer in den ersten Positionskämpfen auf dem damals 17,262 Kilometer langen Rundkurs. Der führt über Landstraßen aus der Südstadt von Le Mans weiter Richtung Süden und wieder zurück, vorbei an den Ortschaften Mulsanne und Arnage. Da drehen die tief überm Département Sarthe im Nordwesten Frankreichs festhängenden Regenwolken voll auf. Die großteils nur lose geschotterte Fahrbahn wird im Nu zur geschlossenen Schlaglöcherdecke. Die Speichenräder mit den handbreiten Reifen und die blattgefederten Fahrwerke der offenen Motorkutschen kriegen eine Dauertracht Prügel wie noch nie. Die Männer an den Lenkrädern und auf den Pedalen ebenfalls. Die nur aus Zelten bestehenden Boxen peitschen Wind und Hagel im Nu in Fetzen. Bis zur hereinbrechenden Dunkelheit sind bereits zahllose Wagenleuchten den Schütteltod gestorben. Was einen Teilnehmer von der laternenlosen Strecke irren lässt. Der erste Unfall der neuen Langstrecken-Autoprüfung endet immerhin ohne körperliche Blessuren.
Robustheit und Zuverlässigkeit im Dauerbetrieb beweisen und damit die Technikentwicklung des kaum 40 Jahre alten Verkehrs- und Reisemittels Automobil beschleunigen: Das ist der Kerngedanke des Automobile Club de l’Ouest (ACO), des Gründers des PS-Marathons am Rande des Flusses Sarthe. Die 100.000 Francs Preisgeld, die es 1923 beim „Premiéres Grand Prix d’Endurance les 24 Heures du Mans“ zu gewinnen gibt, locken 17 Hersteller an den Start – allein 15 aus dem Gastgeberland Frankreich. Trotz des Mistwetters schaffen 30 der 33 Starter die für jede Wagenklasse eigens vorgeschriebene Mindestdistanz (920 bis 1.609 Kilometer). Diese Ankunftsquote von 90,9 Prozent wird nie mehr erreicht bei den 24 Stunden von Le Mans. Dort holen 1923 André Lagache und René Leonard mit einem Chenard & Walcker den ersten Sieg – vor ihren Markenkollegen Raoul Bachmann und Christian Dauvergne. 128 Runden, 2.210 Kilometer absolviert das Gewinnerduo. Ihre 92,064 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit bedeuten Weltrekord für Autofahrten über 24 Stunden. Der Le-Mans-Triumph stärkt den Markenruf von Chenard & Walcker. Für die nächsten 100 Jahre bleibt dieses 24-Stunden-Rennen Turbo für Technik und Image. Ob es zur Langstrecken-Weltmeisterschaft gehört (1953 bis 1992 und seit 2012 wieder) oder nicht: Das Reglement von Le Mans bleibt stets offen für technologische Innovationen.
Die Liste der technischen Innovationen, die in Le Mans für Aufsehen gesorgt haben, ist lang: Frontantrieb (Tracta 1927), Dieselmotor (Delettrez, 1949), Gitterrohrrahmen-Chassis (Jaguar 1951), Scheibenbremsen (Jaguar 1953), Gasturbinen-Antrieb (Rover 1963), Halbautomatik-Getriebe (Chaparral 1966), Slickreifen (Michelin 1967), verstellbare Flügel (Chaparral 1967), Wankelmotor (Mazda 1970), Turboaufladung (Porsche 1974), Doppelkupplungs-Getriebe (Porsche 1986), Hybridantrieb (Audi 2012), elektronische Benzindirekteinspritzung (Audi 2001), Turbodieselmotor (Audi 2006) und Hochleistungsrennwagen für körperlich eingeschränkte Motorsportler (Morgan 2016).
Le Mans fordert heute mehr denn je Material und Mensch. Die Autos sind extrem ausgereift und schnell. Die Dauerwettfahrt ist längst ein Sprint über 24 Stunden. Das gilt für die Sportprototypen wie für die seriennahen GT-Autos, die heutigen Hauptkategorien in Le Mans. Im Schongang sind Gesamtsieg und Klassensiege unmachbar. Wer vom Gas geht, der riskiert zu jeder der zu absolvierenden 86.400 Sekunden die Niederlage – wer draufbleibt, einen Unfall. Vor allem das Überrunden ist bei heute mehr als 60 Startern auf dem Hochgeschwindigkeitskurs mit über 70 Prozent Vollgasanteil totaler Nervenkitzel, speziell bei Regen und Nacht. Obwohl heute die Topspeedunterschiede zwischen Prototypen (circa 350 km/h) und GTs (circa 310 km/h) bei 40 km/h liegen, nicht mehr bei 100 km/h plus wie einst.
Ewiges Extrem bleiben die 24 Stunden von Le Mans trotz immer neuer Speedbremsen und Sicherheitsbooster für Fahrer, Ingenieure, Mechaniker, Strategen, Medizincrew. Jeder in einem Le-Mans-Team muss an sein Limit und oft weit drüber. Dauerstress haben auch die Fans. Erst recht im Jubiläumsjahr 2023: Die einwöchige Vollgas-Sause bietet den diesmal 300.000 statt sonst 250.000 Besuchern an der Strecke und im Zentrum von Le Mans noch mehr an Zeremonien und Zirkus. Gänsehaut ist neben der Piste gerade beim 100. Geburtstag garantiert. Rekorde auf dem Asphalt sind es nicht. Unerreichbar bleibt so auch im 35. Jahr in Folge die 1988 auf der sechs Kilometer langen Hunaudières-Geraden erzielte Höchstgeschwindigkeit: 405 km/h. Mit zwei Schikanen – seit 1990 in Dienst – reicht es dort „nur noch“ bis 350 km/h. Roger Dorchy und der WM-P88-Sportprototyp des Privatteams Welter Racing bleiben wohl ewig die Le-Mans-Topspeed-Helden auf dem seit 1932 auf gut 13,5 Kilometer verkürzten Kurs. Für Le-Mans-Rekordsieger Tom Kristensen steht jedenfalls fest: „Diese Rennstrecke ist und bleibt unvergleichlich.“
Für Marken und Fahrer: Die Liste der Le-Mans-Superstars ist ellenlang, ihr Siegesruhm endlos. Bentley gewinnt 1927 bis 1930 als Erster in Serie. Es folgen Alfa Romeo (1931–1934), Jaguar (1955–1957), Ferrari (1960–1965) und Ford (1966–1969). 1970 siegt endlich Porsche – im 20. Anlauf. Danach noch 18 Mal und damit öfter als jeder andere Hersteller. Zweiterfolgreichste Marke in Le Mans ist Audi: 13 Siege zwischen 2000 und 2014. Seit 2018 blieb Toyota fünf Mal in Folge unschlagbar. Die Japaner bauten als Einzige ein Hybrid-Fahrzeug, wie es die Topklasse heutzutage vorschreibt. 2023 allerdings trifft Toyota in Le Mans (10./11. Juni) auf vier ganz große Gegner: Cadillac, Ferrari, Peugeot und Porsche.
Drei Fahrer haben den Le-Mans-Marathon besonders geprägt: ExABT DTM-Pilot Tom Kristensen wird mit neun Siegen (1997–2013 mit Porsche, Audi, Bentley) zu „Mister Le Mans“. Vor dem Dänen hält als sechsmaliger Gewinner Jacky Ickx (1969–1982 mit Ford, Gulf, Porsche) aus Belgien den Rekord. 33 Starts von 1966 bis 1999 machen Henri Pescarolo zum häufigsten Le-Mans-Racer. Viermal siegt der Franzose (1972–74 und 1984 mit Matra-Simca und Porsche) obendrein.
Reihenweise produziert Le Mans auch Dramen: 1923 bringt Frank Clement (Bentley) per Fahrrad seinem mit leckem Tank ausgerollten Fahrerkollegen John Duff Benzin. Sie werden noch Vierte. 1955 kann Pierre Levegh (Mercedes) auf der Zielgeraden die Kollision mit Lance Macklin (Austin-Healey), der dem bremsenden Mike Hawthorn (Jaguar) ausweicht, nicht verhindern. Leveghs Wagen fliegt in die bloß von einem Erdwällchen geschützten Zuschauer, und er stirbt mit 83 weiteren Menschen – die bisher größte Motorsport-Katastrophe. 1969 macht Jacky Ickx (Ford) aus Protest einen „Schlenderstart“. Weil beim in Le Mans üblichen Sprint der Fahrer zu ihren Cockpits das Vorschrift gewordene Angurten nicht ordentlich machbar ist. Bizarr: Für den unangeschnallten John Woolfe (Porsche) endet sein Crash in der ersten Le-Mans-Runde 1969 tödlich. Und Ickx siegt am Ende trotz Trödelns zu Anfang.
1991 kommt nach unerwarteten Pannen nur einer der drei hochfavorisierten Mercedes auf Platz fünf an. Auch die beiden starken Peugeot fallen aus. Jaguar muss vom Gas, damit die vorgegebene Spritmenge für 24 Stunden reicht. So wird Mazda erster und einziger Le-Mans-Sieger mit Wankelmotor. 1999 entgeht Mercedes bei seinem Comeback mit maximalem Dusel einer Tragödie: Dreimal steigt ein aerodynamisch falsch konstruierter GT-Bolide vom Typ CLR auf und trudelt hoch durch die Luft. Folge: Alle Stern-Fahrer nur mit XXL-Schock, aber ewiger Le-Mans-Rückzug der Stern-Marke.
2011 hat Audi Megaglück: Allan McNish und Mike Rockenfeller überleben nach Kollisionen mit zurückliegenden GT-Autos. Die Chassis ihrer Kohlefaser-Prototypen „schlucken“ genug der brutalen Aufprallenergien. 1994, 1998, 1999, 2014, 2016 und 2017 bringen Riesenfrust für Toyota: Jedes Mal sind die Japaner nah dran an ihrem ersten Le-MansSieg. Doch jedes Mal schlägt das ewige Extrem Le Mans mit Pannen und Patzern gnadenlos zu.